Gute Charaktere sind das Salz in der Suppe einer interessanten Geschichte. Spiele wussten diese These schon früh zu beherzigen: Mit Guybrush Threepwood rätselten wir uns lachend durch ‚Monkey Island‘, mit der toughen Lara Croft erkundeten wir in ‚Tomb Raider‘ die düstersten Ruinen und mit dem Duke lehrten wir nicht nur fiesen Monstern sondern auch etwas zu freizügigen Frauen das Fürchten. Und heute? Da schlagen wir uns mit Langweilern wie Martin Holan in ‚Nibiru‘, 08/15-Figuren wie Sam Fisher oder gleich gänzlich namenlosen „Helden“ herum.
Doomguy oder Duke Nukem?
Natürlich gab es heute wie früher Ausnahmen: Die Ego-Shooter von id Software beispielsweise hatten viele Vorzüge, aber wen spielte man eigentlich in ‚Doom‘? Irgendeinen unbekannten Marine; den Doomguy eben. Auf der anderen Seite hat Quantic Dream erst im vergangenen Jahr mit Lucas Kane in ‚Fahrenheit‘ einen der besten Protagonisten der Spielegeschichte erschaffen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber im Großen und Ganzen lässt sich festhalten: Die interessanteren Charaktere hat das letzte Jahrtausend hervorgebracht. Wer weiß schon, dass der Held von ‚Medal of Honor: Pacific Assault‘ Tom Conlin hieß? Und selbst bei dem mehrfach als Spiel des Jahres 2005 ausgezeichneten ‚Resident Evil 4‘ kommt der Name nur schwer über die Lippen: Leon – aber weiter?
Spiele = One-Night-Stands?
Um sich mit einem Charakter identifizieren zu können, sich mit ihm anzufreunden, ihn zu mögen, muss man etwas über ihn erfahren. Der Spieler muss seine Stärken und Schwächen kennenlernen, sein Denken und Handeln verstehen. Was würde ich in dieser Situation machen, fragt man sich regelmäßig bei Filmen. Aber bei Spielen? Da bangt und zittert keiner um die Figuren; wenn ihnen etwas passieren sollte, sie vielleicht sogar sterben, dann ist das eben so. Kein Grund, um sie zu trauern, das nächste Level wartet ja schon. Weiter geht’s! Spiele haben dadurch ein bisschen etwas von einem One-Night-Stand. Kurze Begrüßung, ein bisschen miteinander spielen und dann am nächsten Morgen fragen: Wie hießt Du nochmal?
Kein Platz für Gefühle
Wenn die Identifikation schon schwerfällt, dann sollte der Charakter zumindest einprägsam sein – aber sogar Entwicklern wie Nintendo bereitet das inzwischen Probleme. Hat man früher innerhalb weniger Jahre Helden wie Mario, Link und Samus aus dem Ärmel geschüttelt, mussten wir uns zuletzt mit Figuren wie Captain Olimar aus ‚Pikmin‘ oder John Raimi aus ‚Geist‘ zufriedengeben. Eigentlich aber nur ein logischer Prozess: Wo vor fünfzehn Jahren noch Drei-Mann-Teams in ihren Zimmern hockten, sind heute unter Umständen hunderte an einer Entwicklung beteiligt. Dass dabei die Seele und die Liebe zum Detail verlorengeht, ist verständlich. Nur merkt man es bei den Charakteren noch deutlicher als bei vielen anderen Elementen eines Spiels. Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage: Will die Mehrheit der Spieler überhaupt vorgefertigte und einigermaßen glaubwürdige Charaktere? Solange die Geschichten im Wesentlichen nicht über das Niveau eines unterdurchschnittlichen Actionfilms hinauskommen, wirken vielschichtigere Figuren wohl deplatziert. Möchte ein Shooterspieler wirklich erfahren, ob sein Held beim Töten ein schlechtes Gewissen hat, ob ihm sein „Job“ auf die Psyche schlägt, ihn Albträume quälen? Vermutlich nicht.
Der eigene Wille
Noch wichtiger ist jedoch: Soll der Spieler eigentlich jemand anderen verkörpern als sich selbst? Titel wie ‚Die Sims‘ haben zweifelsohne auch deshalb so großen Erfolg, weil man seine eigene Familie im Spiel nachbauen kann. Und war nicht eines der coolsten Features von ‚Worms‘ immer, dass man den dem Tode geweihten Würmern Namen von verhassten Mitmenschen geben konnte? Wollen wir in Rollenspielen einen schleimig-strahlenden Helden spielen oder möchten wir selbst entscheiden, wie wir handeln?
Die Abkehr von starken und einprägsamen Charakteren muss nicht unbedingt etwas Schlechtes für die Spiele bedeuten – zumindest dann, wenn es die Entwickler bewusst machen und nicht bloß aus Faulheit oder mangelnder Kreativität auf die Ausarbeitung eines interessanten Protagonisten verzichten. Langfristig kann es sicher ein Ziel sein, dass wir in jedem Spiel uns selbst spielen. Heute metzele ich Monster, morgen löse ich einen Mordfall, übermorgen suche ich nach verschollenen Schätzen. Dann wird das Erzählen von guten Geschichten aber umso schwieriger.