Jedes Jahr ungefähr erscheint ein Spiel, das etwas richtig Neues versucht, sein Genre einen Schritt voran bringen will. Fast jeder dieser Titel ist kommerziell ein Flopp – und muss dann auch noch Monate oder Jahre später mit ansehen, wie die Konkurrenz die innovative Idee aufgreift und zum Erfolg führt. Okami ist so ein Spiel.
Malen ohne Zahlen
Dabei sieht es eigentlich nur so aus wie eine etwas erwachsenere Version von The Legend of Zelda: The Wind Waker: Ihr steuert eine Göttin in Form eines Wolfes durch eine wunderschöne Zeichentrickwelt, kämpft gegen fiese Monster, löst verschiedenste Quests, helft anderen Menschen, erkundet die Umgebung. Aber weil Amaterasu, so heißt sie, eben eine Göttin ist, kann sie mit der Welt anstellen, was sie will. Nicht einfach so mit simplen Zaubersprüchen, sondern mit Malerei. Okami drückt euch gewissermaßen einen Pinsel in die Hand und lässt euch auf diese Weise jederzeit mit der Umgebung interagieren.
Wenn ihr vor einem reißenden Fluß steht, den ihr überqueren müsst, pausiert ihr das Spiel und malt schnell eine Brücke über das Wasser. Wenn ihr vor dem eingestürzten Eingang einer Höhle steht, macht ihr aus den schweren Felsbrocken mit ein paar schnellen Strichen feinsten Kiesel. Wenn ihr ein zerstörtes Wasserrad seht, zeichnet ihr einen kleinen Bogen und schon ist das Problem beseitigt. Diese Form der Interaktion fühlt sich dank der Comic-Grafik so nahtlos, so natürlich an, dass ihr euch fragt, warum nicht schon andere Spiele viel früher auf diese Idee gekommen sind. Gibt es etwas Logischeres, Verständlicheres, als eine Welt durch das zu verändern, was sie erschaffen hat: Striche und Farben?
Ein Bug
Aber Okami hat noch so viel mehr als dieses faszinierende Feature zu bieten. Vor allem: Humor. Denn während Heldin Amaterasu äußerst schweigsamer Natur ist, kann ihr Begleiter Issun einfach nicht seine Klappe halten – und tanzt ihr wortwörtlich auf der Nase herum. Issun ist nämlich ein hüpfender, kleiner Käfer, auch wenn er dieses Wort ("Bug" im Englischen) überhaupt nicht mag. Er bezeichnet sich lieber als Wanderkünstler. Als solcher ist er von den Fähigkeiten der Göttin so beeindruckt, dass er ihr auf Schritt und Tritt folgt, um auch ja alles zu lernen. Nur ganz wenige Charaktere aus einem Videospiel sind mir so schnell ans Herz gewachsen wie Issun. Der perfekte Sidekick vielleicht, weil er mit seiner frechen und vorlauten Art solch einen Kontrast zu der ruhigen, eher grimmigen Amaterasu darstellt. Denkt an Privatdetektiv Sam: Was wäre der schon ohne seinen durchgeknallten Kumpel Max?
Auch was die künstlerische Seite angeht, wirkt Okami einfach wie aus einem Guss. Ich weiß, "aus einem Guss", das wird oft gebraucht und klingt ziemlich abgedroschen. Aber in diesem Fall passt es, man kann es nicht besser beschreiben. Stellt euch The Wind Waker vor, wenn es nicht wie ein Disney-Film, sondern wie ein japanischer Comic für Leser jenseits des Teenageralters aussehen würde. Besonders geschickt: So lange das Böse über einen Teil der Welt herrscht, ist der Himmel von dunklen Wolken verhangen, das Land ist grau und düster. Erst wenn die Göttin gesiegt, das Böse verjagt hat, wird die Welt hier bunt, richtig schön. Ein absoluter Ansporn zum Weiterspielen: Ich will einfach, dass in dieser Welt wieder alles perfekt aussieht, dass sie strahlt und mich nicht blasstraurig anguckt.
Nur ein Spiel
Trotz allem ist ‚Okami‘ nur ein Spiel – und das merke ich leider ein bisschen zu oft. Die Welt mag noch so schön aussehen, sich noch so gut anfühlen… es gibt einfach Moment, in denen ich merke, dass sie nicht echt ist. Momente, in denen sie sich nicht stimmig anfühlt. Viele Spiele mit vorgegaukelter Freiheit haben dieses Problem. Ich erinnere mich an eine Mission aus GTA: San Andreas, in der ich den Wagen eines Flüchtigen zerstören sollte. Kein Problem, dachte ich, packte die Bazooka aus und knallte ihm eine Rakete ins Heck. Aber es passierte nichts: Die Entwickler wollten, dass ich ihn mit meinem eigenen Auto verfolge und durch ständiges Rammen ausschalte. Das macht die Mission spannender, aber es reißt auch aus dieser Welt, stößt mich fast schon vor den Kopf. Sagt mir, dass ich zuviel erwarte. Okami hat genau diese Momente.
In einer der ersten Quests treffen Amaterasu und Issun auf einen Mann, der einen Pass durchqueren will, aber nicht kann – weil ihm ein riesiger Felsen den Weg versperrt. Kein Problem, denke ich, schließlich habe ich ja gerade gelernt, dass ich den mit einem Strich entzwei reißen kann. Aber als ich es versuche, passiert nichts. Mein Fehler? Nein: Das Spiel will, dass ich einen starken Lehrmeister der Kampfeskunst aufsuche, ihm Sake bringe und ihm die Aufgabe aufschwatze. Hörig, wie ich bin, folge ich also den Anweisungen – und erlebe unterwegs zum ersten Mal den Wechsel von Tag zu Nacht. Als ich den Mann erreiche, schläft er tief und fest. Jetzt bin ich verunsichert: Ist der Einbruch der Nacht Teil des Quests? Muss ich ihn irgendwie aufwecken? Ich versuche, eine Sonne an den Horizont zu zeichnen. Auch das habe ich kurz zuvor gelernt. Auch das funktioniert nicht.
Nach einer Lösung suchend, renne ich die nächsten Minuten ziellos umher, nur um dann feststellen zu müssen, dass es doch automatisch wieder Tag wird. Argh! Aber als wäre das noch nicht genug, stellt sich letztlich heraus, dass der vermeintliche Meisterkämpfer ein absoluter Schwächling ist: Er schafft es nicht einmal, seiner Trainingspuppe einen Hieb zu verpassen. Ich muss das für ihn übernehmen, damit er denkt, er hätte sie getroffen. Und ich muss dann ganz am Ende der Quest auch den Felsen mit meinem Pinsel in zwei Hälften teilen. Für ihn. Obwohl ich genau das schon eine halbe Stunde zuvor versucht hatte.
In Momenten wie diesen habe ich Okami gehasst …
… um dann fünf Minuten später doch wieder zu verzeihen. Es ist eben nur ein Spiel. Dafür aber eines, das sein Genre einen Schritt voran bringt.