Gastkolumne: Wesen des Spiels

Der Welt in 60 Sekunden zu erklären, dass es noch andere Welten gibt, ist nicht leicht. In 60 Werbesekunden eine Marke zu verkaufen, gelingt nur selten ohne geistlose Platitüden. Der Werbespot »Double Life« von James Sinclair und Frank Budgen schafft nicht nur beides, er hat das Wesen des Videospielens auch besser verstanden als so mancher Branchen-Insider. Und er ist, ganz nebenbei, einer der besten Werbespots der letzten Jahre.

Menschen in Schnappschüssen alltäglicher Situationen gestehen ihre Schuld. Wir sehen intime Bruchteile ihres Lebens, während sie uns, uns allein ihre Verfehlungen beichten. Sie scheinen keine Gemeinsamkeiten zu haben, und doch haben sie eine: alle führen seit Jahren ein Doppelleben. Um ihrem Alltag zu entfliehen, um ihre Grenzen auszuloten, um ihren eigenen körperlichen Schwächen zu entkommen oder schlicht: um sich zu unterhalten.

<ul>For years, I’ve lived a double life.
In the day, I do my job –
I ride the bus, roll up my sleeves with the <a href="http://dict.leo.org/se?lp=ende&p=lURE.&search=hoi+polloi" target="_blank">hoi polloi</a>.
But at night, I live a life of exhilaration,
of missed heartbeats and adrenalin.
And, if the truth be known, a life of dubious virtue.
I won’t deny it – I’ve been engaged in violence, even indulged in it.
I’ve maimed and killed adversaries – and not merely in self-defence.
I’ve exhibited disregard for life, limb and property,
and savoured every moment.
You may not think it, to look at me,
but I have commanded armies and conquered worlds.
And though in achieving these things I’ve set morality aside,
I have no regrets.
For though I’ve led a double life, at least I can say:
I’ve lived.
</ul>

Dieser Text aus der Feder James Sinclairs stellt selbst ohne Bilder ein mächtiges Statement dar. Die Sprachebenen vom abfälligen »hoi polloi« (die gemeine Masse) bis hin zum gehobenen »for though« oder dem Idiom »life and limb« (im übertragenen Sinne: Leib und Leben) spiegeln die Gegensätze der gezeigten Personen. Im Zusammenspiel mit der Bildästhetik des Regisseurs Frank Budgen erzeugen die Wörter trotz oder wegen ihres kontroversen Inhalts eine beinahe ehrfürchtige Stimmung. Natürlich wirkt jede Einstellung, jede Silbe ungeheuer manipulativ – es ist schließlich Werbung. Doch warum sollte man sich gegen Schönheit wehren?

Ein tiefschürfender Psychologe könnte die Funktionen der einzelnen Menschentypen bestimmt vielschichtig zerlegen. Soweit gehe ich hier nicht und führe bloß zwei Beispiele für die enge Verbundenheit von Text und Person an: die mädchenhafte Verkörperung einer zweifellos tugendhaften Jungfrau spricht die Wörter »dubious virtue« (zweifelhafte Tugend) neben ihrem – ja, was eigentlich? Vater? Aushalter? Lover? Zweifelhaft, in der Tat. Und bei einem unscheinbaren Wörtchen wird die Text-Bild-Symbiose noch deutlicher: »limb« heißt wörtlich übersetzt »Extremität«. In der Textzeile »I’ve exhibited disregard for life, limb and property« wird dieses Wort, nur dieses eine Wort von einem Rollstuhlfahrer ausgesprochen. Von jemandem also, dem nicht mehr alle Extremitäten gehorchen. Großartig komponiert.

Was das mit Spielen zu tun hat? Alles. Auch ich habe Armeen kommandiert und Welten erobert – genau wie die Dame, deren Millisekunden-Auftritt Gänsehaut erzeugt. Auch ich habe Grenzen überschritten, Städte vernichtet, Fußball gegen Weltmeister gespielt, Raumschiffe gelenkt oder quietschebunt gekleidet ulkige Pilze zermatscht. Ich war gewalttätig und friedensstiftend. Oft grundlos, einfach darum. Im Spiel, ohne Strafe fürchten zu müssen. Denn in der Realität des Kinos, der Bücher und vor allem der Spiele darf ich alles. Credits an die Evolution für das größte Geschenk und den bösesten Fluch, die mächtigste Waffe und die gemeinste Schwäche: Einbildungskraft.

Diese Idee lassen Frank Budgen und sein Team in Bild, Musik und Schnitt mit so wirksamer Intimität auf den Zuschauer los, dass sie dafür zurecht mit Preisen überschüttet wurden. Ach ja, das beworbene Produkt ist übrigens die Sony PlayStation. Aber so dumm ist der Werbespot nicht, dass er die noch zeigen müsste.

(Den 6 MB großen Quicktime-Clip kann man sich <a href="http://nz.playstation.com/assets/life-style/ads/double_life_movie.mov" target="_blank">hier</a> oder <a href="http://homepage.mac.com/beatonl/Ads/iMovieTheater8.html" target="_blank">dort</a> anschauen. Für Untertitel-fähige Videoplayer und des verbalen British English nicht so mächtigen Zuschauer dienstleistet d-frag.de <a href="http://d-frag.de/media/double_life.srt" target="_blank">diese schnuckelige Untertiteldatei</a>.)

Der Artikel unterliegt der Creative Commons-Lizenzbedingungen, stammt aus der Feder von Matthias Oborski und ist <a href="http://d-frag.de/blog/2005/05/02/double-life" target="_blank">im Original</a> auf <a href="http://www.d-frag.de" target="_blank">d-frag.de</a> erschienen.

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