Piep, piep, tönt es aus den Lautsprechern. Gebannt starre ich auf den bläulich schimmernden Bildschirm. Da! Eine Rakete. Und noch eine. Und noch eine. Sie fliegen auf kleine Quadrate zu. Meine Städte. Sie wollen sie auslöschen, eine nach der anderen. Diese Raketen… Sie sind so unscheinbar, aber sie können Millionen Menschen töten. Menschen. Was sind schon Menschen? Hier geht es um Zahlen, nackte Zahlen. Kaltblütigen Massenmord, Völkermord, wenn man es genau nimmt. Doch daran denke ich gerade nicht. Ich zittere vielmehr, ob meine Luftabwehr dem Angriff standhält oder ob die ganze Mühe der letzten Stunde umsonst war. Ob ich die Chance zum Gegenschlag bekommen werde oder ob diese Raketen mein Ende bedeuten. Defcon ist grausam.
Nicht was die Darstellung angeht, wohl bemerkt. Länder, U-Boote, Bomber – das sind alles nur ein paar Striche, grell leuchtend immerhin. Aber sie würden nicht einmal einen C64 überfordern. Hier fliegen keine Leichen durch die Gegend, es spritzt kein Blut. Und genau das macht es so grausam. Ich sehe die Menschen nicht, die ich töte. Alles was ich sehe, sind Zahlen: 2 Millionen, 6 Millionen, 10 Millionen. In fünfzehn Minuten lassen locker 100 Millionen Menschen ihr Leben – wenn sich zwei Parteien gegenüberstehen. Bei drei, vier, fünf, sechs Gegnern vervielfacht sich diese Zahl noch. Moderne Kriegsführung nennt sich das wohl: Töten, ohne den Tod zu sehen. Vernichten, ohne das Ausmaß der Zerstörung erleben zu müssen. Es ist kalt, brutal. Und realistisch.
Defcon zelebriert den Tod nicht, es betrachtet ihn nüchtern – wie man das eben heute so macht. Ein Toter, zwei, drei, das kann man sich noch vorstellen. Aber ein paar hundert, tausende oder eben gar Millionen? Wen interessiert das schon. Kollateralschaden kann man das auch nennen, schließlich geht es hier um die Weltherrschaft. Everybody dies. Töten oder getötet werden, das ist nicht die Frage. Bei wem sterben die wenigsten, lautet sie. Nach Defcon gibt es nichts mehr. Die letzte Schlacht der Menschheit.
The Final Countdown
Genau genommen gibt es aber nicht ein Defcon, es gibt fünf. Defcon steht nämlich für Defense Condition, die Verteidigungsstufe eines Landes. Es beginnt mit Defcon 5: Ihr platziert Radaranlagen, Flugfelder, Raketensilos, ein paar Schiffe. Gleichzeitig tickt unbarmherzig die Zeit, Defcon 4 naht. Habt ihr bis Stufe 3 nicht alles platziert, dann Pech gehabt: Ab jetzt wird angegriffen. Wie es sich gehört, allerdings noch nicht mit Atombomben. Erst einmal sind die konventionellen Waffen an der Reihe: Jäger fliegen zur Aufklärung über das Land des Feindes, Flugzeugträger bewegen sich langsam in Richtung seiner Küste, starten selbst erste Flieger, bekämpfen Schiffe des Gegners. Aber das ist nur der Anfang, Geplänkel, Vorbereitung – Einstimmung auf das, was kommen wird.
Defcon 1. Die höchste Stufe. Ist sie erreicht, gibt es kein Zurück mehr. Erst wenn die letzte Rakete abgefeuert wurde, die Menschheit auf ein Minimum reduziert ist, kehrt wieder Ruhe ein. Aber wie fängt es an? Wer zuckt zuerst mit der Wimper? Das ist eine der entscheidenden Fragen. Denn wer zuerst schießt, verrät allen Gegnern die Position seiner Raketensilos. Ein taktischer Vorteil, der den Ausschlag geben kann. Auf der anderen Seite: Wer zu lange wartet, muss unter Umständen mit ansehen, wie sich die anderen Parteien die Köpfe einschlagen und eine uneinholbar in Führung geht. Denn abgerechnet wird in der Regel nicht nur nach den meisten Überlebenden, sondern auch nach den meisten Getöteten. Defcon ist grausam.
Balance of Power
Und unausgeglichen. Vor allem Europa lässt sich besser verteidigen als jede andere Region. Wo die Russen eine riesige Fläche abdecken und die Amerikaner zwei große Künstenlinien schützen müssen, macht es sich der kleine Fleck Europa gemütlich. Der größte Vorteil ist, dass sämtliche Silos, die gleichermaßen als Luftabwehrstellungen dienen, nahezu den ganzen Kontinent abdecken. Fliegt eine Rakete auf Europa zu, kommen also alle Defensiveinrichtungen zum Einsatz. Bei den großen Parteien sind es selten mehr als ein oder zwei. Unfair. Und auch von der Verteilung der Spieler ist zuviel abhängig: Sofern nicht alle sechs Plätze belegt sind, hat immer irgendjemand einen Vorteil. Nicht grausam, aber ärgerlich.
Dennoch ist Defcon ein faszinierendes Spiel. Allein die Idee, Krieg so kühl und berechnend darzustellen, ist großartig – weil sie auch uns, den Spielern, einen Spiegel vorhält: Wer bei Call of Duty noch von der genialen Kriegsatmosphäre geschwärmt hat, wird von Defcon genau mit dem Gegenteil konfrontiert. Gerade weil es so simpel, so kalt, so gewissenlos ist, regt es zum Nachdenken an. Vielleicht wollte Entwickler Introversion das damit erreichen. Vielleicht wollten sie auch nur ein gutes Strategiespiel mit simpler Grafik machen, wie man es aus Wargames kennt. Beides ist ihnen gelungen: Defcon mag simpel aussehen, doch ohne die richtige Taktik geht nichts. Und es ist spannend, weil sich das Blatt innerhalb von Sekunden wenden kann. Ein Spiel mit vielen Facetten.