Im Gerichtssaal: „Einspruch, Euer Ehren! Die Aussage des Zeugen widerspricht ganz eindeutig den Beweisen.“ – „Tatsächlich? Na, dann lassen Sie mal hören, Mr. Wright!“ – „Es ist ganz simpel: Der Zeuge behauptet, er habe die Tat von seinem Fenster aus beobachtet und sich die Zeit so genau eingeprägt, weil gerade im Fernsehen die Nachrichten liefen. Aber: Schon zehn Minuten zuvor war im ganzen Block der Strom ausgefallen, wie ein mir vorliegendes Schreiben eindeutig belegt. Das kann nur eines bedeuten: Der Zeuge lügt!“ – „Hm, Mr. Wright, das klingt sehr logisch. Aber warum um alles in der Welt sollte der Zeuge lügen?“ – „Na, das ist doch ganz einfach: Weil er selbst den Mord begangen hat!“
Szenen wie diese reihen sich in ‚Phoenix Wright: Ace Attorney‘ nur so aneinander: Das in Japan entwickelte Adventure spielt sich wie eines dieser Detektivbücher von Wolfgang Ecke, die ich in meiner Kindheit geradezu verschlungen habe. In jeder Aussage eines Zeugen ist ein Widerspruch versteckt, den es zu entdecken gilt: Mal ist es eine simple Angabe wie die Uhrzeit, die schlicht und ergreifend nicht stimmen kann, mal eine komplexe Indizienkette, welche den Zeugen seiner Glaubwürdigkeit beraubt. Jeder der insgesamt fünf Fälle des Spiels nimmt daher zahlreiche, meistens unvorhergesehene Wendungen, welche die Spannung in die Höhe treiben. Lediglich auf eine Konstante kann ich mich als junger, aufstrebender Anwalt verlassen: Mein Mandant ist unschuldig und nur durch unglückliche Umstände in diese Situation geraten.
Spiel mit Gefühlen
‚Phoenix Wright: Ace Attorney‘ ist jedoch nicht nur ein Adventure für Möchtegerndetektive und Freizeitanwälte – es ist viel mehr als das: Es ist eines der wenigen Spiele, die es tatsächlich verstehen, Emotionen hervorzurufen. Ich hasse die Bösen und bange um die Guten. Ich verabscheue den gegnerischen Staatsanwalt, der für meinen Schützling einen Schuldspruch erwirken will, obwohl er spätestens nach den ersten Zeugenaussagen genau weiß, dass dieser überhaupt nicht schuldig ist. Ich zittere um meinen Klienten, wenn er selbst in den Zeugenstand gerufen wird und sich um Kopf und Kragen redet. Ich bin geradezu erleichtert, wenn der Fall endlich vorbei ist und der Richter sich für ein „nicht schuldig“ entschieden hat.
Die Schöne und das Biest
Einen großen Teil dieser Emotionen bezieht ‚Phoenix Wright: Ace Attorney‘ aus seinen wunderbaren Charakteren und den brillanten Dialogen, die sich zwischen ihnen abspielen. Da wäre zum Beispiel die junge Maya, Phoenix ständige Begleiterin, die erfrischend natürlich selbst in den ungemütlichsten Situationen gute Stimmung verbreitet. Oder aber Miles Edgeworth, Phoenix‘ Gegenspieler, dessen arrogantes Gehabe so richtig auf die Nerven gehen kann – bis er schließlich selbst unfreiwillig die Seiten wechselt und ich mit ihm leide. Die Geschichte, die diesen Namen wirklich verdient, besitzt mehr ausgeklügelte Feinheiten und faszinierende Figuren als jedes andere Spiel der letzten Jahre, mit Ausnahme des ebenfalls grandiosen ‚Fahrenheit‘.
Unterhaltung mit Niveau
Trotz seiner auf den ersten Blick eher jugendlichen Präsentation ist ‚Phoenix Wright: Ace Attorney‘ ein erwachsenes, fast schon nachdenkliches und lehrreiches Spiel. Allem voran stehen die Fragen der Moral und Gerechtigkeit: Kann ein kleiner Junge des Mordes schuldig gesprochen werden, wenn er in Notwehr und vollkommen ohne Absicht handelt? Ist es richtig, dass er fünfzehn Jahre später die Tat gesteht, obwohl er sich nicht einmal mehr vollständig an die Vorgänge erinnern kann? Darf ein Mann Rache nehmen, der fälschlicherweise ins Gefängnis kam?
Die Zukunft?
Einen nicht zu unterschätzenden Anteil an dem „Mittendrin statt nur dabei“-Gefühl hat das futuristische und aus heutiger Sicht gar nicht mehr so unrealistische Rechtssystem, in dem die schnelle Verurteilung eines potentiellen Täters mehr Bedeutung hat als das Finden der Wahrheit. Nach spätestens drei Tagen muss jeder Fall abgeschlossen sein, die Beweislast liegt nach dem Eröffnungsplädoyer nicht mehr bei der Anklage, sondern bei der Verteidigung. Selbst wenn offensichtlich ist, dass der Angeklagte die Tat nicht begangen haben kann, ist ein Schuldspruch noch immer möglich – nämlich dann, wenn der wahre Täter nicht entlarvt und geschnappt wird. So wundert es auch nicht, dass die gegen Phoenix antretenden Staatsanwälte noch nie einen Fall verloren haben: Getürkte Indizien, bestochene Zeugen und „verschwundene“ Beweise zählen zum Alltag. Eine düstere Zukunftsvision.
Verspätet nach Europa
Langer Rede, kurzer Sinn: ‚Phoenix Wright: Ace Attorney‘ ist das bislang beste Spiel für den Nintendo DS. Es ist spannend, lustig, intelligent und noch dazu außerordentlich lang: In weniger als 20 Stunden lassen sich die Fälle kaum lösen. Der Europa-Release ist für den März 2006 geplant, in Nordamerika ist der von Capcom veröffentlichte Titel bereits seit Mitte Oktober erhältlich.