45:45 ist eine magische Zahl – zumindest für David Rickard. In dieser Zeit hat der Student nämlich das geschafft, wofür andere zehn Stunden oder mehr benötigten: Den Ego-Shooter ‚Half-Life‘ durchzuspielen. David hält den Rekord, sein Speedrun ist die weltweite Nummer eins. Was motiviert jemanden, ein Spiel so schnell wie möglich zu bewältigen?
Die Zeit läuft
„Jede Sekunde zählt: Zwei Soldaten stürmen auf mich ein, doch ich ignoriere sie und versuche, ihren Schüssen auszuweichen. Schnell über ein paar Kisten geklettert und schon haben sie mich aus den Augen verloren. Jetzt bloß nicht hängenbleiben! Hinter der nächsten Ecke lauern schon die nächsten Gegner – ihnen werfe ich schnell eine Granate vor die Füße und dann geht es mit einem gewagten Sprung an eine Leiter ins obere Stockwerk. Wenn ich bloß noch ein bisschen mehr Munition hätte. Ein Umweg für Nachschub würde mir sicher fünf Sekunden rauben!“ Klingt ein bisschen wie eine neue Folge der TV-Serie ’24‘? Mitnichten. So ungefähr sieht es in den Köpfen der Verrückten aus, die ihr Leben der Geschwindigkeit widmen: In Form von Speedruns.
Rekordjagd im Internetzeitalter
Speedruns sind eine nicht ganz neue Art Wettbewerb, die durch das Internet in den letzten Jahren aber enorm an Renomee gewonnen hat: Nie war es einfacher, seine Fähigkeiten in einem Spiel einer breiten Öffentlichkeit so eindrucksvoll zu demonstrieren. Denn wo andere zehn, zwanzig oder sogar noch mehr Stunden benötigen, um das Ende eines Spiels zu sehen, brauchen „Speedrunner“ selten länger als sechzig Minuten. Die magische Zahl für den Ego-Shooter ‚Half-Life‘ etwa lautet 45:45. 45 Minuten und 45 Sekunden – vom Anfang bis zum Ende. Der Klassiker ‚Super Mario Bros.‘ auf dem NES wurde mit Hilfe von Abkürzungen in der sagenhaften Zeit von 5:06 durchgespielt. Ohne Abkürzungen liegt der Rekord bei 21:18. Spiele wie ‚Half-Life‘ oder eben ‚Super Mario Bros.‘ sind natürlich prädestiniert für Geschwindigkeitswettbewerbe, aber auch Rollenspiele bleiben von dem Phänomen nicht verschont.
In 1:11:37 gelang Dominic Legault ein Durchmarsch durch ‚Baldur’s Gate 2‘. Und das selbst für geübte Spieler schwer zu bewältigende ‚The Elder Scrolls 3: Morrowind‘ wurde in 7:30 durchgespielt. Nicht in sieben Stunden und dreißig Minuten wohlbemerkt, sondern in sieben Minuten und dreißig Sekunden.
Früher Pac-Man, heute Half-Life
Was motiviert diese Irren, die Monate damit verbringen, immer neue Abkürzungen und Techniken zu entdecken und taglich stundenlang trainieren, nur um letztlich ein kleines Video online zu stellen, in dem sie der weiten Welt ihr Meisterwerk präsentieren? Im Grunde sind Speedruns nichts anderes als eine logische Fortsetzung der Highscorejagden, die es seit dem Beginn der Videospiele gibt: Wo früher in ‚Pac-Man‘ um immer höhere Punktzahlen und in ‚Outrun‘ um immer bessere Streckenzeiten gerungen wurde, wagt man sich heute eben an ganze Spiele. Warum sich mit dem Kleinen zufriedengeben, wenn man das ganz Große erreichen kann? „Natürlich muss man ein bisschen durchgeknallt sein“, verrät uns ein Spieler, der gerade für einem neuen Speedrun in ‚Half-Life 2‘ trainiert. „Und man muss ganz viel freie Zeit haben.“ Das ist vielleicht die Ironie: Der Kampf um die kürzeste Zeit gewinnt derjenige, der dafür am meisten Zeit aufbringen kann.
Am Stück oder geschnitten
Es gibt verschiedene Arten von Speedruns: Die Königsdisziplin sind die so genannten „Single-Segment Runs“, also Speedruns, die an einem Stück gespielt, aufgenommen und veröffentlicht werden. Wer da mithalten will, darf sich wirklich keinen einzigen Fehler erlauben und muss beste Nerven zeigen. Wem das noch zu simpel ist, der versucht das Ganze noch ohne ein Leben oder gar Energie zu verlieren. Einfacher, sofern man das so sagen kann, sind die „Segmented Runs“ – Speedruns die in mehreren kleinen Abschnitten angegangen werden.
Üblicherweise ist das zum Beispiel ein Level an einem Stück. Wichtig ist aber, dass sich die einzelnen Abschnitte genau aneinanderfügen: Bei spielrelevanten Werten wie etwa der Lebensenergie darf auf keinen Fall gemogelt werden. Gerade das ist aber besonders bei Konsolenspielen ein Problem. Während sich Cheats in der Regel noch recht problemlos erkennen lassen, ist es bei Konsolentiteln unmöglich herauszufinden, ob ein Spiel mit Hilfe eines Emulators beispielsweise in Zeitlupe gespielt wurde. Im Normalfall werden daher bei Konsolenspielen nur per Videokarte oder Videorekorder direkt von der Konsole aufgenommene Speedruns akzeptiert.
Die wahre Form der eSports?
So sehr das Interesse an Speedruns auch zugenommen hat: Im Vergleich zu dem, was man heutzutage unter eSports versteht, ist die Aufmerksamkeit noch immer sehr gering. Was schade ist, stecken die „Speedrunner“ in einen perfekten Run doch auch nicht weniger Aufwand als jemand, der jeden Abend ein paar Stunden ‚Counter-Strike‘ trainiert. Wer sich an einen Speedrun wagt, nimmt sich ein Spiel genauer vor als jeder andere Spieler, wahrscheinlich sogar genauer als die Entwickler selbst. Jedes noch so kleine Geheimnis, jeder Fehler im Programmcode, der ein paar Sekunden sparen kann, will gefunden werden, bevor es ein anderer schafft.<br /><br />Wie genau so ein Speedrun geplant wird, welche Arbeit man dafür leisten muss, wieviel Zeit man tatsächlich benötigt und was einen motivieren kann, das verrät uns auf der nächsten Seite David Rickard: Er hat die besagten 45 Minuten und 45 Sekunden für ‚Half-Life‘ benötigt und hält damit bis heute den Rekord.