Verteidiger des Computerspiels meinen, dass jedes neue Medium in seiner Anfangszeit die immergleichen Ängste auslöse. So formuliert stimmt es nicht. Jedes neue Medium löst nicht die immergleichen Ängste aus. Es löst jeweils neue Ängste aus. Insofern ist diese Verteidigung falsch. Was aber immer gleich ist: Ängste werden ausgelöst – Ängste, die mit der Verdrängung eines etablierten Kommunikationssystems zu tun haben. Diese Ängste sind Symptom eines Medienwandels, der eine neue Generation bevorzugt und eine ältere aus Kommunikationszusammenhängen ausschließt. Das jeweils Neue am Medium ist Begründung dafür, warum man sich als Älterer ausgeschlossen fühlt und einen Kontrollverlust über die Kommunikation der Jüngeren erleidet.
Der Film war vor hundert Jahren schlimm, weil er mit seinem Bewegungsbild eine ganzheitliche Ansicht vom Geschehen gab und somit die freie Wahl zwischen den Details ließ, ohne dass andere dabei pädagogisch einwirken konnten.
50 Jahre später waren alle mit Film aufgewachsen und hatten damit keine Probleme, aber das neu aufkommende Fernsehen zerstörte für Kritiker die gemeinschaftliche Rezeption und ließ die Menschen somit alleine mit der Ansicht vom Geschehen, ohne dass andere dabei pädagogisch einwirken konnten.
30 Jahre später waren alle mit Fernsehen aufgewachsen und hatten damit keine Probleme, aber der Videorekorder zerstörte das vorgegebene Programmschema und ließ den Menschen somit die freie Wahl der Inhalte, ohne dass andere dabei pädagogisch einwirken konnten.
20 Jahre später sind alle mit Video aufgewachsen und haben damit keine Probleme, aber das Computerspiel zerstört nun die festgelegte Abfolge von Inhalten und lässt den Menschen somit die freie Wahl, wie sie etwas rezipieren können, ohne dass andere dabei pädagogisch einwirken können.
Und in 20 Jahren werden alle mit Computerspielen aufgewachsen sein und werden damit keine Probleme haben, aber dann gibt es ein neues Medium, das diese Selbstbestimmtheit auflöst und deshalb werden ich und andere, die jetzt Computerspiele verteidigen, die schärfsten Kritiker des neuen Mediums werden und so viel naturwissenschaftliches Geschütz wie möglich auffahren, um unsere gesellschaftliche Position zu behaupten, die auf bestimmten älteren Medien beruht.
Der Strukturwandel, den neue Medien mit sich bringen, ist allerdings zu abstrakt, um ihn als Argument ins Feld zu führen. Deshalb wird jedesmal wieder der Medieninhalt genommen, um ihm antisoziale Wirkung zuzuschreiben. Das ist das Einzige, was man anderen vorzeigen kann, um die eigenen Vorbehalte zu illustrieren, und deshalb kommt man auch immer wieder auf den Inhalt zurück. Er kann dann das eigene Unbehagen über den Medienwechsel verkörpern und erzeugt dadurch die Logik, dass das Verschwinden dieser Verkörperung auch den Medienwechsel und seine unangenehmen Strukturveränderungen verschwinden lassen würde.
Die Unterhaltung durch Gewaltdarstellungen begleitet die Medien seit den antiken Gladiatorenkämpfen. Sind die Gewaltdarstellungen in Computerspielen also "normal"?
Diese Logik, mit der sich Kritiker selbst überzeugen können, ficht auch nicht an, dass wir es seit Anbeginn der menschlichen Kultur mit immer denselben Inhalten zu tun haben. Denn der Hinweis darauf, dass schon im Fernsehen und davor im Film und davor in der Malerei und davor im Theater Gewalt dargestellt wurde, bekräftigt nur die Überzeugung, dass mit dem neuen Medium eine neue und damit gefährliche Qualität ins Spiel gekommen ist. Der Hinweis belegt doch, dass diese alten Medien harmlos sind. Warum diese durch die Konkurrenz durch ein neues Medium in Frage stellen, dessen Wirkungen noch nicht durch jahrzehntelangen Gebrauch überprüft worden sind?
Dass im Laufe der Geschichte immer wieder Gewalt dargestellt wird, erklärt sich aus ihrer Struktur. Gewalt ist ein sehr einfaches, sehr verständliches und damit sehr überzeugendes dramatisches Prinzip, das zudem mit sehr eindringlichen, beeindruckenden Mitteln dargstellt werden kann. Es ist die maximale Show. Für alle, auch die Kritiker. Denn ihre Kritik ist ja nur die umgekehrte Fassung dieser Show und profitiert genauso von dieser Intensität.
Außerdem ist die Gewaltdarstellung der neuen Medien die Darstellung der Gewaltdarstellung in den alten Medien, denn mit denen treten sie in Konkurrenz und versuchen sich dagegen zu profilieren. Denn die Gewaltdarstellung in Computerspielen ist nicht aus dem Nichts entstanden.
Wenn man sich die Erzählungen der Großeltern und Eltern anhört, wenn man die skeptischen Artikel liest, dass jetzt die ersten Politiker in Deutschland und Frankreich antreten, die nicht mehr von Kriegserfahrungen geprägt sind, wenn man den Geschichtsunterricht in Schulen und Hochschulen ansieht, wenn man die Nachrichten einschaltet oder die Titelseiten von Zeitungen ansieht, dann hat man das Gefühl, dass Krieg und gewaltsame Auseinandersetzung das Wichtigste in der Kultur seien. Warum sollte man sich damit nicht auch in Computerspielen auseinandersetzen? Warum sollte man die Deutungshoheit über diese menschliche Grundbedingung nur den anderen Kommunikationsmitteln überlassen?
Spiele lassen sich nicht mit anderen Medien vergleichen, bei denen man nur zuschaut, weil Spieler ein Spiel ganz anders erleben als Zuschauer. So argumentieren Spieler: Für sie sei ein Spiel eben "nur ein Spiel"; sie würden gar nicht die Gewaltbilder, sondern nur die darunter liegenden Denk- und Geschicklichkeitsaufgaben wahrnehmen. So argumentieren aber auch Neurologen: Die Interaktivität der Spiele steigere deren Wirkung eher noch. Wer hat Recht?
Die Debatte über die Wirkung von Computerspielen konzentriert sich auf das falsche Problem. Ob Gewaltdarstellung antisoziales Verhalten auslöst oder nicht, wird nun seit mehreren Jahrtausenden diskutiert und kann auch mit neuesten Hirnforschungsmethoden nicht geklärt werden. Wichtiger ist die Vorstellung vom Neuen am neuen Medium, die von Kritikern wie Verteidigern entworfen wird.
Darüber lohnt es sich eher nachzudenken, und zwar nicht in Bezug auf die Inhalte, sondern auf die gesellschaftliche Struktur. Beide Seiten, Kritiker wie Verteidiger, sprechen von Interaktivität und begründen damit ihre Einschätzung der Inhalte von Computerspielen. Kritiker sagen, die Möglichkeit auf die Inhalte einzuwirken, erhöhe ihre Wirkung. Selbst zu bestimmen, wann ich im Spiel schieße, erklärt mir, dass ich schießen kann, egal ob im Spiel oder außerhalb. Verteidiger sagen, durch die Interaktivität würden die Inhalte aufgelöst und die darunterliegende Struktur bleibt übrig.
Bei Counterstrike geht es nicht darum, sich an möglichst vielen Kopfschüssen zu erfreuen, sondern eine gemeinsame Teamaufgabe zu lösen. Es ist aber zu fragen, ob Computerspiele wirklich interaktiv sind oder ob das Neue an ihnen nicht etwas ganz anderes ist.
Das Problem mit der Interaktivität ist, dass man sich darunter Interaktion vorstellt. Und mit Interaktion wird die Kommunikation zwischen Menschen bezeichnet. Sie interagieren miteinander, weil sie sich gegenseitig Mitteilung machen und Einfluß auf die anderen Handlungen üben. Dass im Laufe ihrer Entwicklung Computerspiele immer mehr Wahlmöglichkeiten geboten haben, erzeugte die Illusion, dass sie auf die Handlungen der Spieler reagieren und dementsprechend neue Mitteilungen und neue Handlungen anbieten würden.
Dabei blieben sie so starr wie immer. Es wurde nur irgendwann unüberschaubar und das wurde mit Freiheit und Ergebnisoffenheit verwechselt. Ein Trick, mit dem der eigentliche Effekt von Computerspielen verschleiert werden kann. Mit einer Maske von Erzählung und der Vortäuschung von Interaktion, sorgten Computerspiele dafür, dass sich Menschen freiwillig an die Programmstruktur von Computern anpassten und sich mit Joystick, Controllern und Tastaturen ständig abfragen ließen.
Die Welten von Computerspielen sind nicht sozial, sondern konfigurativ. Sie bestehen immer aus einer bestimmten Anzahl von bestimmten Elementen – Bewegungslinien, Objektplätzen, temporalen Zuständen –, die darauf warten, sich an eine Mechanik, einen Körper zu heften und diesen dazu zu bringen, sie in die einzig richtige Abfolge zu stellen. Insofern ist der Begriff Interaktivität, das Reden von der Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit, die man bei Computerspielen im Gegensatz zu anderen Medien hätte, falsch. Spielen ist ein Angepasstwerden an diese Elemente, eine Formatierung gemäß dieser erwünschten Abfolge, eine Instrumentalisierung durch die Maschine, damit sie ablaufen kann.
Die Wirkung von Computerspielen ist nicht, dass sie mit einer neuen Methode die alten Inhalte effektiv auf die Menschen übertragen können, ihre Wirkung ist, dass wir durch sie den Computer in unseren Alltag und an unsere Körper gebracht haben. Es ist eine Gesellschaft entstanden, in der unsere menschliche Kreativität und Entscheidungsfreiheit ständig abgefragt, zu Informationen verarbeitet und dann verwaltet werden kann. Dagegen ließe sich eine Menge sagen. Dafür auch. Aber weil das zu abstrakt ist und zu sehr nach Science-Fiction klingt beschäftigt man sich lieber mit Gewaltdarstellungen. Denn mit denen ist man seit langer Zeit vertraut.
Zur Person
Mathias Mertens
Dr. Mathias Mertens ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien und Theater der Universität Hildesheim. Veröffentlichungen zuletzt: "Wir waren Space Invaders. Geschichten vom Computerspielen" und "Kaffeekochen für Millionen. Die spektakulärsten Ereignisse im World Wide Web."
Der <a href="http://www.bpb.de/themen/72C5C9,0,Die_ewig_neuen_Neuen_Medien.html" target="_blank">Artikel</a> erschien zuerst unter <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de/" target="_blank">Creative Commons-Lizenz</a> im Magazin <a href="http://www.fluter.de" target="_blank">fluter</a> der "Bundeszentrale für politische Bildung".