Wir beleuchten das Nischen-MMORPG.

Fast anderthalb Jahre schon reist der Planet Atys mit seinen Bewohnern durch das Online-Universum. Kaum ein anderes MMORPG als ‚Ryzom‘ hatte bisher einen schwereren Stand, seine Existenz im Kampf um das tägliche Überleben gegen seine Mainstream-Konkurrenten zu verteidigen. Doch während gerade im vergangenen Jahr eine fast nicht mehr zu überschauende Zahl an neuen Projekten bereits in der Entwicklungsphase eingestampft wurde, scheint ’Ryzom’ seine Nische gefunden zu haben. In unserem mehrteiligen Feature möchten wir das interessante Online-Rollenspiel von mehreren Seiten beleuchten. Den Anfang macht der im Folgenden zu lesende Artikel über den aktuellen Stand der Dinge. Besonders MMORPGs sind nichts ohne ihre Spieler, weswegen wir uns mit einigen Veteranen unterhalten haben.

2005: Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten
Das Online-Universum im Jahr 2005. Noch vor wenigen Jahren lebte der passionierte Spieler von MMORPGs eher von der Hand in den Mund, als dass ihm eine Auswahl an Titeln präsentiert wurde, die scheinbar jeder Vorliebe gerecht wird. Harte Kompromisse mangels Alternativen scheinen der Vergangenheit anzugehören. Der Rollenspieler kann – ganz basisdemokratisch – allein durch die Wahl, welchen Titel er mit monatlichen Gebühren unterstützen will, schlechten Angeboten ganz einfach die rote Karte zeigen. Vielleicht liegt ja hierin ein Hauptgrund für die schon während der Entwicklung eingestampften einstigen MMORPG-Hoffnungen der Industrie in diesem Jahr begründet. Es scheint nicht mehr ganz so leicht zu sein, an das verlockende Geld der Kunden zu kommen.<br /><br />
Aktuell bietet sich ein Bild, in dem gigantische Mainstream-Titel wie ’World of WarCraft’ oder ’EverQuest 2’ den Großteil der potentiellen Spieler sowie den Nachwuchs in der westlichen Hemisphäre abschöpfen, während in Asien, dem Kontinent der unbegrenzten Online-Möglichkeiten, Spiele wie ’Lineage’ ein Millionenpublikum fesseln.

Was ist anders an Ryzom?
Offensichtlich bedeutet auch in diesem Genre Masse nicht zwangsläufig Klasse. Sonst hätten sich nicht interessante Nischen gebildet, die von ebenso interessanten MMORPGs besetzt werden und auf eine treue Anhängerschaft zählen können. Das ’Ryzom’-Universum, das eine nahezu künstlerisch anmutende Kombination aus Science-Fiction und Fantasy bietet, zählt zweifellos dazu. Aber was kann nun einen Spieler gerade an ’Ryzom’ reizen und ihn nicht in die Fänge der großen Verführer von Blizzard oder Sony Online Entertainment treiben?

Die meisten der Spieler, welche wir befragten, führen vor allem den nicht alltäglichen Hintergrund an. Christian zum Beispiel, der einen männlichen Matis Namens Carfesch durch die virtuelle Welt führt, begeistert sich für die unverbrauchte Spielwelt, die eben “nicht zum x-ten mal das Herr der Ringe, Ork/Elfen- bzw. Mittelalter-Thema“ behandelt. Der Spieler Damor fügt treffend hinzu: “Wenn ’WoW’ Coca-Cola ist, dann ist ’Ryzom’ Fritz-Cola! Weniger Geld im Hintergrund, weniger ’perfekt’, kleinere Anhängerschaft aber innovativer, frischer, ’intimer’, fesselnder“. Doch ’Ryzom’ erweist sich nicht nur wegen seines alternativen Wegs fernab eines Tolkien-Universums attraktiv.

Die Freiheit, seine Figur zu entwickeln, ohne sich auf eine Ausrichtung unwiderruflich festzulegen, wird von vielen Fans als äußerst motivierend und nicht als das Rollenspiel störend empfunden. Wer sich bereits das eine oder andere Mal durch die Leveltretmühlen gängiger Online-Rollenspiele gequält hat, wird dies nachvollziehen können.

Take it or leave it
Interessant sind auch die verschiedenen Umstände, wie man zu ’Ryzom’ findet, da der Titel bekanntlich nicht den Popularitätsgrad oder den Werbeetat vergleichbarer MMORPGs aus dem Mainstream-Bereich genießt. Stieß man nicht bereits seinerzeit während des offenen Beta-Tests dazu und blieb dem Spiel treu, sprach sich das ungewöhnliche Online-Rollenspiel sehr schnell im Bekannten- und Arbeitskreis herum. Trotzdem scheint ’Ryzom’ stark zu polarisieren, was sich schon nach relativ kurzer Zeit bemerkbar macht, wie die Spielerin Lidia bemerkt: “Entweder man liebt es und will nichts anderes mehr, oder man sagt gleich: Nee, danke. Die, die es lieben, kommen alle wieder, weil sie eh merken, es gibt nichts Vergleichbares."

Welche Wesen trifft man in Atys?
Während böse Zungen wohl teilweise zu Recht behaupten, dass vor allem der jugendliche Spieler von ’World of WarCraft’ & Co. magnetisch angezogen wird, scheint sich ’Ryzom’ als Rückzugsgebiet genervter und gereifter Rollenspieler etabliert zu haben. Allein der Vergleich der Inhalte in den öffentlichen Chat-Kanälen macht den Eindruck, als achte man hier besonders auf ein gutes Auskommen mit seinen Spielgefährten. Dies scheint die von vielen Spielern bemerkte Auffälligkeit zu bestätigen, dass in ’Ryzom’ die Teilnehmer viel mehr auf sich selbst bzw. auf die Mithilfe erfahrener Spieler angewiesen sind. Anders als in anderen MMORPGs, die sich zwar einerseits als sehr viel einsteigerfreundlicher erweisen, da sie den roten Faden nie vermissen lassen und die Spieler von einer Quest zur nächsten weiterreichen, müssen andererseits die Spieler von ’Ryzom’ laut Carfesch „eigenständig agieren und viel selber machen.“

Der Mangel an Content-Nachschub wie am Fließband, wie es beispielsweise ’World of WarCraft’ im Abstand von wenigen Wochen vormacht, oder Quests bzw. Instanzen zu jeder Lebenslage, wie man sie von den Giganten der Branche gewohnt ist, könnte vor allem an den begrenzten Ressourcen und dem unabhängigen Status von Entwickler Nevrax liegen. Dies wird von der Community zwar ausgesprochen tolerant gesehen, doch würde man sich auf neue Inhalte nach langer Zeit sowie kürzere Abstände zwischen den Events, die der Fortführung der Story dienen, sehr freuen.

Würden rein biologisch gesehen MMORPGs endlich gleichermaßen Männer wie Frauen ansprechen, hätte das Genre in den vergangenen Jahren ein wohl noch größeres Wachstum als ohnehin schon erlebt. Auch hier scheint ’The Saga of Ryzom’ etwas anders zu sein, da sich offensichtlich auch verstärkt Frauen dafür begeistern können – wenn auch hier wie üblich nicht hinter jedem weiblichen Charakter in Wirklichkeit eine Frau steckt, wie die Spielerin Lidia ergänzt. Trotzdem glaubt Dieter, der auch In-Game mit seinem Avatar Tanis seinen männlichen Erbanlagen treu geblieben ist, “dass Ryzom eher als andere Spiele für Frauen geeignet ist.“

Zuhause und Geborgenheit
Die Gilden haben zum Überleben des Titels einen großen Beitrag geleistet, denn sie halten die Community zusammen und gestalten für ihre Mitglieder den Alltag in Atys interessant. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ein Großteil der Teilnehmer sich in den verschiedenen Gilden organisiert. Gerade für MMORPGs scheinen diese Vereinigungen wie geschaffen zu sein, da dort laut Damor eine gute Gilde mehr auszeichnet, als einfach nur dabei zu helfen, mit dem virtuellen Ich voranzukommen: “Man gewinnt die Charaktere lieb, kennt ihre Eigenheiten, Stärken und Schwächen.“ Es ist also genau der Punkt, den besonders Liebhaber von Rollenspielen zu schätzen wissen: “Gildenspiel bedeutet Kommunikation und Teamplay. Genau die Dinge, warum ich ein MMORPG spiele und keine Shooter“, so der Kami-gläubige Daniel.

Die Wünsche der Spieler
Würde in ’Ryzom’ alles perfekt laufen, dann bräuchte man sich sicher keine Gedanken um die Zukunft des MMORPGs gerade in Hinblick auf die stetig wachsende, knallharte Konkurrenz aus dem Mainstream-Bereich zu machen. Seit kurzem ist die neue Episode auf den Live-Servern online, die vor allem das PvP und die Kämpfe um die Außenposten eingeführt hat.

Etwas verwirrt reagiert da der eine oder andere Spieler auf den Weg, den ’Ryzom’ nun eingeschlagen hat. So auch der Veteran Tanis: „Das Spiel sollte wieder zum Anfang zurückfinden. Der Spielspaß war im Vordergrund. Heute wird auf Zweikampf (Kami/Karavan) oder PvP oder Outposts (Gilde gegen Gilde) gesetzt. Die ehemalige, fast ’unschuldige’ Spielfreude ohne Begrenzung und Parteizugehörigkeit, hat mir viel besser gefallen.“

Befindet sich ’Ryzom’ also auf falschem Kurs? Jemand, der mit PvP absolut nichts anfangen kann, steht da natürlich außen vor. Glaubt man, dass mit der Einführung eines Systems, das auf Konkurrenz zwischen den Spielern aufbaut, mehr „mehr junge, an Action interessierte Spieler“ begeistert werden können? Denkt Nevrax etwa, die Gruppe der alteingesessenen treuen Spieler dann vernachlässigen zu können, weil diese einfach zu wenig Geld in die Kassen spülen?

Wohin steuert Raumschiff Ryzom?
Jedoch sollte man Nevrax nicht völlige Tatenlosigkeit besonders beim Nachschub an neuen PvE-Inhalten vorwerfen. Zumindest beim anstehenden ersten kostenlosen Add-on ’The Ryzom Ring’ dürfte viel neues Spielzeug bereit gestellt werden. Nämlich dann, wenn die Spieler ihre eigenen Welten und Events für die ’Ryzom’-Community erschaffen können. Doch gerade beim Thema ’The Ryzom Ring’ und unter Einbeziehung der bisherigen Entwicklung des Online-Rollenspiels sollte sich Entwickler Nevrax schon einmal genau fragen, wohin man eigentlich will.

Die Intention scheint sich, wie schon angerissen, seit der Einführung der Outposts spürbar geändert zu haben. Ein großer Teil der Community, der seit langem dürstend auf neue Inhalte wartet, kann mit diesem neuen Kapitel nur ansatzweise befriedigt werden. Setzt man hier also in Wahrheit auf die Eigeninitiative der Spieler, die sich gefälligst mit dem ’Ryzom Ring’ ihre Abenteuer in Zukunft selbst zusammenbasteln sollen? Trotz des selbstverständlich zu begrüßenden Konzepts, dass Spieler zum ersten Mal überhaupt aktiv an der Gestaltung ihrer Spielwelt beteiligt werden, wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, wie die Möglichkeiten des ’Ryzom Rings’ überhaupt angenommen werden.

Ein mögliches Worst-Case-Szenario
Es erscheint ziemlich offensichtlich, dass man hinsichtlich der Gilden-vs.-Gilden-Kämpfe bei den Outposts an das sehr erfolgreiche ’Guild Wars’-Konzept anknüpfen will. Doch was passiert, wenn die damit angesprochene neue Zielgruppe den Köder nicht schluckt und im schlimmsten Fall außerdem noch die alteingesessenen Spieler vergrätzt werden? Nevrax jedenfalls täte gut daran, sich sehr ernsthaft zu überlegen, wohin ’Ryzom’ in der Zukunft steuern soll. Die mit Abstand größte Stärke von ’The Saga of Ryzom’ ist seine unverkennbare Identität, die zu erhalten mit Sicherheit langfristig mehr zum Erfolg beiträgt, als das Einflicken erfolgreicher aber wahrscheinlich nur kurzfristig attraktiver Konzepte mit ungewissem Haltbarkeitsdatum.

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